Unter „baldmöglichst“ verstehen wir etwas anderes!

Offener Brief an die Mit­glieder der Ver­samm­lung der Hessi­schen Landes­anstalt für privaten Rund­funk und neue Medien (LPR Hessen) vom 21. Februar 2009, 100 Tage nach der Entscheidung, Radar trotz massiver Einschränkung der Zugangsoffenheit für weitere vier Jahre zu lizenzieren.

Sehr geehrte Damen und Herren,

dieser Offene Brief richtet sich an die dreißig Mit­glieder der Ver­samm­lung der LPR Hessen. Außer­dem geht der Brief an die Presse, den Bundes­verband Freier Radios BFR, die Landes­medien­anstalten sowie wei­tere Men­schen, die sich für die Belange des nicht­kommer­ziel­len lo­ka­len Rund­funks inter­essieren.

Am 3. November 2008 entschied die Versammlung der LPR Hessen, den Trägerverein des Darmstädter nichtkommerziellen Lokalradios, Radar e.V., trotz massiver Probleme mit der Zugangs­offenheit für weitere vier Jahre bis Ende 2012 zu lizenzieren. – Um dem Radar e.V. Planungssicherheit zu geben, und – so wird der Vorsitzende der Versammlung der LPR Hessen, Herr Winfried Engel, zitiert – die LPR erwarte, dass Radar und die Medienwerkstatt sich baldmöglichst einigten.
Am Mittwoch vergangener Woche, 11. Februar 2009, waren ein­hundert Tage ver­gangen, die der Radar e.V. sich mit seiner neuen Lizenz­situation vertraut machen konnte.

Wir greifen die einhundert-Tage-Frist auf, die üblicher­weise neuen Staats­ober­häuptern zur Ein­arbei­tung zugestanden wird, und ziehen eine erste Bilanz.
Was hat sich bewegt? – Nichts. – Unter „baldmöglichst“ verstehen wir etwas anderes!

Siehe auch: Erklärung der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt e.V. vom 4. 11. 2008

Nach einem „Machtwechsel“ in der Vereins­führung des Radar e.V. bereits im Jahr 2006 ging es mit der Programm­qualität des Darm­städter Lokal­radios in kürzester Zeit stark bergab. Dadurch hat das Radio viele Hörer­innen und Hörer ver­loren.
Durch anhaltende Hausverbote von der Möglichkeit des Radio­machens fern­gehalten sind nicht nur drei Mit­glieder der Dissent – Medien­werk­statt Darm­stadt e.V., sondern auch zahl­reiche weitere Menschen. In dieser Situation hat die LPR Hessen im Herbst 2007 die Lizenz des Radar e.V. vor­läufig nur für ein Jahr verlängert, um zu beob­achten, wie die Haus­verbote sich auf die Zugangs­offen­heit beim Darm­städter Lokal­radio aus­wirken.

Wir von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt e.V. haben diese „Versuchs­anordnung“ ernst ge­nom­men und ein Jahr lang getestet, wie sich das Radio­machen unter den Bedingungen des nicht-gewähr­ten Zu­gangs zu den Produk­tions­mitteln gestaltet. Unser Fazit: Ja, wir können Pro­duk­tionen ab­lie­fern (voraus­gesetzt, wir haben privat die Möglich­keit, ein Ton­studio zu nutzen). Mit viel Glück werden unsere Pro­duk­tionen auch leid­lich wieder­erkenn­bar ausgestrahlt. Aller­dings werden die von uns in sehr guter Quali­tät produ­zierten Sen­dungen vom Radar e.V., wenn über­haupt, verzerrt und mit teil­weise sinn­ent­stellenden Aus­lassungen ab­gespielt. Unsere Hin­weise auf die mangel­hafte Quali­tät werden ignoriert.
Mit Radiomachen hat diese Art der Produktion und Aus­strahlung von Audio-Beiträgen unserer An­sicht und Er­fahrung nach nicht mehr besonders viel gemein­sam. Ins­besondere die Un­möglich­keit des Live-Sendens ist als auf Dauer angelegter Zustand nicht hinnehmbar.

Darüber hinaus hat die Einschränkung des Zugangs für eine Gruppe en­ga­gier­ter Radio­macher­innen und Radio­macher mittel­bare Aus­wir­kungen auf alle Men­schen, die in Darm­stadt ehren­amt­lich Radio­programm ge­stal­ten wollen. Ein brei­tes gesell­schaft­liches Spek­trum in Darm­stadt ist da­durch völlig vom Radio­machen aus­ge­schlossen. So werden seit Herbst 2006 bei Radio Darm­stadt keine Prakti­ka für Schüler­innen und Schüler oder Studierende mehr angeboten. Die Kinder­redak­tion musste ihre Arbeit ein­stellen, weil ihr Be­treuer mit einem Haus­verbot be­legt ist. Weitere Men­schen und gesell­schaft­liche Gruppen, die zuvor im Programm von Radio Darm­stadt gut ver­treten waren, sind margi­na­li­siert und kommen nur noch ganz spo­ra­disch zu Wort. Dies betrifft zum Bei­spiel Gruppen im Um­feld der Gewerk­schaften, die größten­teils über die mit Haus­ver­boten belegten Mit­glieder von Dissent ins Radio gekommen sind.

Diese unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen der Hausverbote auf die Zugangsoffenheit bei Radio Darmstadt mussten der LPR Hessen zum Zeitpunkt der Beschlussfassung am 3. November 2008 bekannt sein, denn die Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt e.V. hatte sie im Herbst 2008 in einem ausführlichen „Sachstandsbericht zur Zugangsoffenheit bei Radio Darmstadt“ nachvollziehbar herausgearbeitet. Dieser Bericht lag der LPR Hessen seit 13. Oktober 2008 vor.

Die LPR Hessen mag die formaljuristische Auf­fassung vertreten, dass sie keinen Ein­fluss auf die zivil­recht­lichen Fragen eines Haus­verbots hat. Für die massi­ven mittel­baren Aus­wir­kungen auf medien­recht­liche Fra­gen sollte sich die LPR Hessen aber inter­essieren: Es kann wohl kaum von „Zugangs­offen­heit“ zum nicht­kommer­ziellen Lokal­radio ge­sprochen werden, wenn sendewilli­gen Menschen zu­gemutet wird, sich den Zugang vor einem Zivil­gericht zu er­strei­ten, bevor sie tat­säch­lich Sendungen im nicht­kommer­ziellen Lokal­funk gestalten können. Diese Situation betrifft nicht nur drei Mit­glieder der Dissent – Medien­werk­statt Darm­stadt e.V.

Seit dem 3. November 2008, also seit dem Radar e.V. die neue, gesicherte Lizenz­situation bekannt ist, hat sich im Prinzip nichts getan. Uns er­reichte Mitte November ein Schreiben des Radar e.V. mit der Bitte um ein „klären­des Gespräch“. Welchen Klärungs­bedarf der Radar e.V. sieht, wurde nicht mit­ge­teilt, bis jetzt konnte noch nicht einmal ein Termin gefunden werden. Dabei ist schwer aus­zu­machen, ob das die Taktik des Radar e.V. ist – sie tun einen klitze­kleinen Schritt, um damit in der Öffent­lich­keit gut da­zustehen, danach bewegt sich nichts mehr – oder ob die Sache schlicht im Alltags­stress unter­ge­gangen ist.

Für „klärende Gespräche“ war im Jahr 2008 genügend Zeit. Diese wurde aber nicht genutzt.
Im April hatte die LPR einen so­genann­ten „Runden Tisch“ anberaumt, der aber letzt­lich ergebnis­los blieb. Unsere kon­struk­tiven Vor­schläge wurden vom Radar e.V. ab­ge­lehnt. Die LPR machte den Vor­schlag, eine Redak­tion aus der Dissent – Medien­werk­statt Darm­stadt e.V. zu gründen. Weitere Ge­spräche kamen nicht zustande, obwohl dies aus­drück­lich ver­ein­bart wurde.

Beim Vorschlag der LPR fragen wir uns heute, ob er über­haupt ernst gemeint war. Nach den Statuten des Radar e.V. muss eine neue Redak­tion von der Mit­glieder­ver­samm­lung des Vereins be­stätigt werden. Nach­dem die Mit­glieder­ver­samm­lung des Radar e.V. Anfang Dezember 2008 eine Redaktion „Dissent“ mit faden­schei­ni­gen Grün­den ab­ge­lehnt hatte, fragten wir am 7. Dezember 2008 bei der LPR nach, wie sich unser Zugang zum Lokal­radio nun her­stellen kann. Auf dieses Schreiben haben wir bis heute keine Ant­wort erhalten.

Uns drängt sich der Eindruck auf, dass die LPR Hessen nicht wirk­lich das „Inter­esse des nicht­kommer­ziellen lokalen Rund­funks in Darm­stadt“ im Sinn hat, wie sie das in ihrer Presse­mit­tei­lung zur Lizenz­ent­schei­dung vom 3. November 2008 formu­liert hat. Mit dieser Ent­­schei­dung hat die Ver­samm­lung der LPR Hessen dem nicht­kommer­ziellen lokalen Rund­funk in Darm­stadt großen Schaden zu­gefügt, weil sie damit den dringend nötigen Befriedungs­prozess weit zurück­geworfen hat. Die Ent­schei­dung ist ein Schlag ins Gesicht all der­jenigen, die in Darm­stadt nicht­kommer­zielles lokales Rund­funk­programm hören oder ge­stalten wollen.

Wir fordern die LPR Hessen auf, geeignete Maß­nahmen zu ergreifen, um den nicht­kommer­ziellen lokalen Rund­funk in Darm­stadt zu befördern. Dazu gehört auch, die Alter­nativen zum Bestehenden ernst­haft zu prüfen.

Mit freundlichen Grüßen
Katharina Mann, Vorstand Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt e.V.

Kategorie: Textwerkstatt | veröffentlicht am 21. 2. 2009